"Wird schon seine Gründe haben, warum diese Person sich gerade so benimmt", "Ist doch halb so wild" oder "Vielleicht würden wir das Gleiche in seiner/ihrer Situation tun" sind Gedanken, die ich mir immer wieder mache, wenn ich mich in Gegenden außerhalb meiner vier Wände befinde, in denen sich auch andere Menschen aufhalten. Sogenannte Leute.
Der Rempler war sicher nicht beabsichtigt, auch wenn keine Entschuldigung, nicht mal ein kurzes "Sorry", folgte. Die Dame hat sicher nicht gesehen, dass das Ende der Warteschlange drei Personen weiter hinter mir ist und nicht zwei große, volle Einkaufswagen vor mir. War bestimmt keine Absicht.
"WHAT THE FUCK!", "WAS STIMMT DENN MIT DIR NICHT!?" oder "HALT DIE FRESSE JETZT!" möchte ich aber mittlerweile ganz oft viel lieber sagen, bzw. eher schreien, wenn die Großbuchstaben das noch nicht deutlich gemacht haben.
Mach' ich nicht, möchte ich eigentlich auch nicht, aber möchte ich doch.
Und dann frage ich mich, ob bei der Respektlosigkeit, der Ignoranz und der Rücksichtslosigkeit dieser Leute nicht doch irgendwann der Punkt kommen muss, an dem es gerechtfertigt wäre, denen eine metaphorische Schelle zu verpassen. Nicht nett, nicht verständnisvoll, sondern geradeaus in die Fresse!
Natürlich nicht! Die Reaktion wäre womöglich eine Schelle zurück, und mit einer Prise Pech ist diese nicht metaphorisch. Wer sich angegriffen fühlt, geht automatisch in den Verteidigungsmodus – kennen wir alle.
Ich suche ja auch keinen Streit.
Also auf das falsche Verhalten in einem sachten, verständnisvollen Ton aufmerksam machen und ansprechen, was da gerade in meinen Augen falsch läuft? Diese Lösung wirbelt dann gleich mehrere Zweifel in mir auf:
Wer bin ich, mir anzumaßen, die Person zurechtzuweisen?
Wenn die Person einfach so weitermacht, oder mich sogar belächelt, habe ich dann automatisch verloren? Das würde mir dann wiederum ein Gefühl der Scham hervorrufen – vor mir selbst und vor den Augenzeugen.
Geht die Person trotzdem in den Schellen-Verteiler-Modus, metaphorisch oder nicht, weil sie sich ertappt fühlt?
Lohnt sich diese Anstrengung überhaupt, weil sich jetzt und in Zukunft ja doch nichts ändern wird? Menschen sind eben Menschen…
Womit geht es mir besser?
Mache ich den Mund auf, kann ich stolz behaupten, etwas gesagt zu haben – eingestanden zu sein für etwas. Für etwas, das andere vielleicht gar nicht so ernst nehmen?
Konzentriere ich mich weiter auf den Podcast oder die Musik und kümmere mich nicht, kann ich meinen Alltag friedlich und entspannt fortführen.
Beide Situationen führen aber unweigerlich dazu, dass ich mich trotzdem aufrege. Über die Frau am Check-In, die mir so nahe kommt, dass sie meinen Koffer ständig tritt und ihr schweres Ausatmen auf meiner Handoberfläche zu spüren ist. Über den Mann in der Bahn, der mitten in der Tür einfach stehen bleibt, weil er glaubt, das hier sei jetzt der richtige Platz für ihn, auch wenn die Leute nicht mehr vorbeikommen. Über den Paketboten, der irgendwelche kleinen Zettelchen direkt auf die Straße wirft.
Das wird der Anstand sein, den mir meine Mutter von klein auf beigebracht hat.
Vielleicht bin ich aber auch einfach zu feige, in die Konfrontation zu gehen, weil ich Angst habe, nicht schlagfertig genug zu sein? Das muss ich noch reflektieren…
Zumindest würde ich von mir selbst behaupten, ein anständiger Mann zu sein.
Ist Anstand in diesem Sinne Glück und Pech zugleich? Glück, weil ich mit mir selbst im Reinen bin, aber Pech, weil man Anstand auch von anderen erwartet? Denken die anderen, über die ich mich aufrege, das Gleiche wie ich, über mich? Bin ich vielleicht sogar manchmal einer von den anderen, über die sich andere aufregen? Ich zumindest würde es begrüßen, wenn Menschen mich auf meine Fehler hinweisen.
Glaube ich. Peinlich wäre es mir sicher auch.
Ich für meinen Teil versuche aber, mich in der Öffentlichkeit so zu verhalten, wie ich es eben auch von anderen erwarten würde: rücksichtsvoll.
Am Ende ist es für mich ein Teufelskreis. In 95 % der Fälle wahre ich meinen Anstand, indem ich fremden Menschen nicht ungefragt meine persönliche Meinung aufbinde und weiter versuche, mir Gründe auszudenken, welche das Handeln rechtfertigen. Die anderen 5 % schreie ich meistens im Auto aus mir heraus, wo es maximal meine Mitfahrer hören, weil "Leute" einfach zu egoistisch Auto fahren. Aber, liebe Freunde, und damit möchte ich diesen Gedankengang abschließen:
Da habe ich ganz sicher selbst auch so einige Makel…
Empfehlung passend zum Thema:
Das Buch "Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen" von Axel Hacke.