"I love your hat, man!"
Völlig übermüdet – der Jetlag hat gerade erst begonnen – warte ich vor einem "Brunch-Place" in Port Jefferson, NY darauf, dass wir endlich reingerufen werden.
Ich bin das erste Mal in den USA, um meinen Schwager zu besuchen. Der Flug von Istanbul nach New York war super. Ich habe nicht geschlafen, um den Jetlag auszutricksen. Dann kam die Passkontrolle. Wir mussten knapp zwei Stunden in der Schlange stehen, bis wir endlich am Schalter waren. Und der Beamte war leider der Meinung, dass ich auch nochmal zum Interview muss – ein Vorstellungsgespräch, um meine Reise in die USA zu rechtfertigen. Das waren dann nochmal 90 Minuten obendrauf.
"Thanks, man", habe ich völlig perplex erwidert. Abgesehen von der nervigen Einreise wurde ich also mit "I love your hat, man" von den Amerikanern willkommen geheißen. Es war gerade 11 Uhr morgens, aber: THAT MADE MY DAY.
Jetlag ausgeblendet. Ein einfaches Kompliment eines Fremden, der mir im Vorbeigehen mitteilt, dass er meinen Hut bzw. meine Mütze – Stetson Flatcap – gut findet.
Warum können wir Deutschen das nicht? Was hält uns davon ab, einem Fremden ein Kompliment zu machen, wenn uns etwas gefällt? In New York wurde mir diverse Male im Vorbeigehen gesagt, dass mein Stil gefällt. Und zwar so beiläufig, dass ich es nicht mal gemerkt hätte, wenn noch andere Menschen um mich herum gewesen wären. Aber es war an mich gerichtet, und mein Herz ist jedes Mal dabei aufgegangen. Ein Boost für das Selbstbewusstsein. Und mit so einem Boost an Selbstbewusstsein geht man dann durch den Tag und ist allen Situationen viel positiver gestimmt. Butterfly-Effekt!
"Idiot!" habe ich aber auch in Brooklyn gehört, weil ich frecherweise vor einem Auto über den Zebrastreifen gehen wollte… Hat er recht, wie konnte ich nur!
Ich bin leider auch einer derjenigen, die wenig Komplimente verteilen. Mir bedarf es Mut, über meinen Schatten zu springen und jemanden für den Anzug, Hut, die Krawatte, das Kleid oder generell den Stil zu loben. Sooo oft bietet sich da jetzt auch nicht die Möglichkeit – ich lebe in Bremen. Aber wenn sich die Gelegenheit doch bietet, traue ich mich oft nicht. Meistens aus Furcht vor Zurückweisung. Vielleicht hört er/sie mich nicht, und dann stehe ich einfach da. Wie peinlich. Vielleicht will er/sie gar kein Kompliment und schenkt nur einen verwunderten Blick zurück. Auch peinlich. Vielleicht ignoriert er/sie mich, oder vielleicht findet er oder sie ja sogar, dass ich hier gerade einen Anmach-Versuch starte und fühlt sich "offended".
Man fühlt sich dann auch ein bisschen ertappt, weil man ja ganz offenbar genauer hingeguckt hat. Peinlich.
Und dann ärgere ich mich im nächsten Moment, dass ich zu feige war, ein Kompliment zu machen, denke aber auch, dass der Zeitpunkt jetzt vorbei ist. Jetzt noch hinterherrufen oder hinterhergehen, das wäre seltsam – oder peinlich!
Dabei weiß ich doch, dass ein Kompliment vielleicht den ganzen Tag einer Person bestimmen kann oder vielleicht den ganzen vergangenen Tag einer Person "doch gar nicht so schlimm" aussehen lassen kann, weil sie sich geschmeichelt fühlt – gewissermaßen sogar wertgeschätzt. Die anderen sind dann vielleicht doch nicht mehr so scheiße.
Warum kann mich die Möglichkeit des Butterfly-Effektes durch ein Kompliment nicht dazu bringen, einer fremden Person zu sagen: "Klasse Outfit", "Tolles Kleid", "Ich mag Ihren Stil","Super Duft", "Schöne Schuhe" oder "Geile Titten!"… Kleiner Spaß!
Kürzlich sind meine Frau und ich durch die Bremer Innenstadt spaziert. Ein wirklich toll gekleidetes, älteres Ehepaar hat uns im Vorbeigehen angesprochen und gesagt, sie würden es ganz toll finden, wie wir angezogen sind. Und meine Frau erwiderte daraufhin, dass sie gerade das Gleiche sagen wollte, wie toll sie die beiden findet. Dann haben wir uns gegenseitig einen schönen Tag gewünscht und das Gespräch auf beiden Seiten lächelnd und gut gelaunt beendet.
Sowas macht Freude, sowas bleibt im Kopf.
Auf besagtem Flug nach New York war ich mir mit meiner Frau einig, dass der Flugbegleiter eine unglaublich nette Ausstrahlung hatte. Wahrscheinlich hatte seine Schicht gerade erst begonnen. Ich habe mich getraut und ihm genau das gesagt – also, das mit der Ausstrahlung. Er hat sich darüber so sehr gefreut, dass er uns den ganzen Flug lang Aufmerksamkeit geschenkt hat und immer sichergestellt hat, dass bei uns alles okay ist. Butterfly-Effekt.
Ein Kompliment kann so vieles bewirken. Ob man eine bescheidene, offene oder zurückweisende Reaktion bekommt, kann eigentlich egal sein. Jeder von uns bekommt gern ein Kompliment, also kann man davon ausgehen, dass ein Kompliment auch für andere in irgendeiner Weise in den Köpfen hängen bleibt. Und ich bin sicher, dass 99 % der Menschen zumindest ein Lächeln oder ein schüchternes "Dankeschön" erwidern.
Vielleicht sollte ich bei der nächsten Einreisekontrolle dem Beamten ein Kompliment über die Uniform machen…